Euthanasie

Walter Bustorff – Opfer der „Euthanasie“ 1944

Dieser Eintrag aus dem lange in unserer Kirche ausliegenden Gedenkbuch, 1969 entstanden, führte uns auf die Spur eines Opfers der nationalsozialistischen Verbrechen der sogenannten „Euthanasie“. Walter Bustorff wurde in der Vernichtungsanstalt „Landeskrankenanstalt Meseritz-Obrawalde“ mit einer Giftspritze ermordet.

Das Foto zeigt Walter Bustorff, der aufgrund der nationalsozialistischen Kriterien als „lebensunwerter“ Mensch Opfer der „Euthanasie“ wurde.
Geboren wurde er am 20. Oktober 1884 in Schmalstede als Sohn des Musikus Hermann Christian Bustorff und dessen Ehefrau Elsabe, geb. Nachtigall. Er wurde in der Flintbeker Kirche getauft.
Walter Bustorff führte als Kaufmann ein Kolonialwarengeschäft in FlintbekVoorde, Freeweid 9. Er war verheiratet mit Meta Bustorff, geb. Schwan, die zusammen die Kinder Irma (1912), Herbert (1916), Elsbeth und Walter (1934) hatten.
Ehrenamtlich aktiv war Walter Bustorff von Dezember 1934 bis September 1942 in Voorde und nach der Fusion in Flintbek als Schöffe, Beigeordneter und Gemeinderat. Diese aktive Mitwirkung in der Zeit des Nationalsozialismus zeigt, dass er dem System nicht ablehnend gegenüberstand, was ihn jedoch nicht vor der Ermordung schützte.
Aufgrund welcher ärztlichen Diagnose Bustorff im Kreispflegeheim Plön in Flintbek (heute Eiderheim in der Trägerschaft des Landesvereins Innere Mission) lebte, ist nicht mehr genau zu klären. Am 10. Mai 1944 wurde er in die Einrichtung Schleswig-Stadtfeld verlegt und von dort mit 700 anderen Menschen am 14. 09.1944 in die „Landeskrankenanstalt Meseritz-Obrawalde“ in der östlichen Provinz Posen. Einen Monat später am 16. Oktober 1944 erhielt die Ehefrau ein Telegramm „Ehemann Walter entschlafen. Beerdigung Donnerstagvormittag. Überführung und Einäscherung nicht möglich. Kommen wegen Reiseeinschränkungen unterlassen. …“, gefolgt von einem Brief: „Wie ich Ihnen bereits telegraphisch mitteilte, ist Ihr Ehemann Walter am 16.10.44 infolge Lungentuberkulose entschlafen. Die Erdbestattung erfolgt auf dem hiesigen Friedhof. … Gleichzeitig bitte ich Sie um Überweisung der Telegrammgebühr von 4,35 RM unter Angabe des obigen Aktenz. und des Verwendungszweckes. Wegen Personalmangel ist es mir leider nicht möglich, weitere Anfragen Ihrer Angehörigen zu beantworten. … [Nationalsozialistischer Gruß]“ Walter Bustorffs Ehefrau war hartnäckig, mutig in dieser Zeit, und reagierte mit einem Antwortschreiben. Darin brachte sie ihr Befremden zum Ausdruck über die Art und Weise der Benachrichtigung sowie die fast täglichen Todesanzeigen in der Kieler Zeitung, in denen Meseritz-Obrawalde als Ort angegeben wurde. Mittlerweile war es laut Mitteilung der Kieler Zeitung verboten worden, diesen Ort in der Todesanzeige anzugeben. Der Schriftverkehr ist nachzulesen in der ZEIT Nr. 14 vom 02. April 1965. Nachgewiesen wurde nach dem Krieg, dass es sich bei der Landeskrankenanstalt Meseritz-Obrawalde um eine Vernichtungsanstalt handelte.

Wir gedenken Walter Bustorff als Opfer der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus.

Euthanasie

Walter Bustorff

Warum musste Walter Bustorff 1944 in Meseritz-Obrawalde sterben?

In der Heilanstalt Meseritz-Obrawalde wurde das Programm der „Euthanasie“ des Nazi-Regimes umgesetzt, indem die Patientinnen und Patienten mit Giftspritzen ermordet wurden. Der Begriff „Euthanasie“ stammt aus dem Altgriechischen und heißt übersetzt „schöner Tod“, was einen Tod ohne Leiden meinte. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts wurde er in Verbindung mit ärztlichem Handeln gebracht, das zu schmerzfreiem Sterben verhelfen sollte. Welch‘ perfider Begriff für die Massenvernichtung von schutzbedürftigen Menschen mit körperlichen Einschränkungen, psychischen Krankheiten und sozialen Problemen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und in überfallenen Staaten als „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Zwischen 1939 und 1945 wurden mehrere hunderttausend Kinder und Erwachsene durch Vergasung oder Giftspritzen ermordet, weil sie Kosten verursachten und nicht arbeitsfähig waren. (Aly S. 22) Auf der Grundlage eines Runderlasses des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939, der vorbereitet wurde vom „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ begann die Umsetzung der Mordaktion.

„Die Opfer der Euthanasie galten vielen als Last. Sie starben gewaltsam und von aller Welt verlassen.“
 (Aly S.290)

Wie konnte es sein, dass Menschen als wertlos angesehen und ermordet wurden?

Sie waren anders und schwach, nicht so leistungsfähig wie es erwartet wurde.

Waren die Opfer eine Last für die Familie? Störten sie den Ablauf des Alltags? Fühlten sich die Angehörigen überfordert und vertrauten sie den Kreis- und Pflegeeinrichtungen ohne Misstrauen? Konnten sie dem auf sie ausgeübten Druck nicht standhalten?

Um die Bevölkerung nicht in Unruhe zu versetzen, erhielt die Mordaktion „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ den Tarnnamen „Aktion T4“, der für Tiergartenstraße 4 in Berlin steht, wo sich der Dienstsitz der zuständigen Behörde befand, deren Leiter der Mediziner Werner Heyde, Professor für Psychiatrie und Nervenheilkunde, war. (Aly S.46) Nach und nach wurden die Heil- und Pflegeanstalten in Nervenklinik oder Psychiatrisches Landeskrankenhaus umbenannt. (Aly S.195) Still und leise geschah dieses Verbrechen – doch halt! Dies stimmt nicht durchgängig, denn es gab Widerstand. Bekannt geworden ist die anprangernde Predigt des Bischofs Clemens August von Galen. Woraufhin die Nazis subtiler vorgingen und offiziell die T4 Aktion 1941 beendeten. Ärzte sprachen gegenüber den Familienangehörigen von einer medizinischen Behandlung, die dem Angehörigen helfen, aber auch zum Tod führen könnte. Proteste einzelner Familienangehöriger blieben in der Regel erfolglos. Nur wenigen gelang es, ihren Angehörigen wieder nach Hause zu holen. Weitergeführt wurde die „Euthanasie“ nach 1941 u.a. in den Vernichtungsanstalten in den besetzten polnischen Gebieten.

Diese Maßnahmen betrafen auch Schleswig-Holstein und somit das Kreispflegeheim Plön in Flintbek (heute Eiderheim in der Trägerschaft des Landesvereins Innere Mission). Namentlich bekannt sind außer Walter Bustorff aus Flintbek noch drei weitere Heimbewohner, die zunächst nach Schleswig verlegt wurden und von dort laut Angaben des Archivars des Landesvereins Innere Mission in die Vernichtungsanstalt Meseritz-Obrawalde (Provinz Posen, später Provinz Brandenburg) verlegt wurden. Wie konnte es sein, dass nach dem Ende des Nationalsozialismus im Mai 1945 Stillschweigen bewahrt wurde? Bis heute, also mehr als 80 Jahre nach den grausamen Geschehnissen, wurde die Geschichte der Opfer aus den damaligen Heil- und Pflegeanstalten nur rudimentär aufgearbeitet.

„Die Frevler ziehen das Schwert und spannen ihren Bogen, dass sie fällen den Elenden und den Armen und morden die Frommen.Aber ihr Schwert wird in ihr eigenes Herz dringen und ihr Bogen wird zerbrechen.“
Psalm 37, Vers 14 und 15

Unsere Kirchengemeinde stellt die Opfer jeglicher Gewalt in den Mittelpunkt des Gedenkens und Erinnerns, doch sollen in diesem Fall zwei Täter benannt werden, weil sie in enger Beziehung zu Kiel stehen. Werner Catel war einer der wichtigsten Gutachter im Rahmen der Kinder-Euthanasie und wurde 1954 Leiter der Kieler Universitätsklinik. Werner Heyde gehörte zum Leitungsgremium, das die T4 Aktion organisierte. Unter dem falschen Namen Fritz Sawade tauchte er nach 1945 in Schleswig-Holstein unter und verfasste psychiatrische Gutachten, obwohl es in Kiel einflussreiche Personen gab, die wussten, wer sich hinter diesem Namen versteckte. Viele Verfahren gegen beteiligte Mediziner*innen endeten nach 1945 zudem mit einem Freispruch oder einer geringen Strafe, während Überlebende lange um Wiedergutmachung kämpfen mussten.

Literatur:
Götz Aly, Die Belasteten, „Euthanasie“ 1939-1945 Eine Gesellschaftsgeschichte, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2023, 3. Auflage Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat , Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, Fischer Taschenbuch Verlag, 2009,12. AuflageSilke von Bremen, Stumme Zeit, Roman, Dörlemann Verlag AG, Zürich 2024Schleswig-Holstein, Die Kulturzeitschrift für den Norden, Winter/Frühjahr 2024, Gespräch mit Marie Schwesinger „Das Unfassbare fassbar machen“, S. 6- 27Johannes Ehrmann „Warum starb Tante Ingrid?“ in DIE ZEIT, Nr. 23 vom 28. Mai 2025, S. 56/57