Euthanasie
Wir gedenken Walter Bustorff als Opfer der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus.
Euthanasie
Walter Bustorff
Warum musste Walter Bustorff 1944 in Meseritz-Obrawalde sterben?
In der Heilanstalt Meseritz-Obrawalde wurde das Programm der „Euthanasie“ des Nazi-Regimes umgesetzt, indem die Patientinnen und Patienten mit Giftspritzen ermordet wurden. Der Begriff „Euthanasie“ stammt aus dem Altgriechischen und heißt übersetzt „schöner Tod“, was einen Tod ohne Leiden meinte. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts wurde er in Verbindung mit ärztlichem Handeln gebracht, das zu schmerzfreiem Sterben verhelfen sollte. Welch‘ perfider Begriff für die Massenvernichtung von schutzbedürftigen Menschen mit körperlichen Einschränkungen, psychischen Krankheiten und sozialen Problemen in der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und in überfallenen Staaten als „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Zwischen 1939 und 1945 wurden mehrere hunderttausend Kinder und Erwachsene durch Vergasung oder Giftspritzen ermordet, weil sie Kosten verursachten und nicht arbeitsfähig waren. (Aly S. 22) Auf der Grundlage eines Runderlasses des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939, der vorbereitet wurde vom „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ begann die Umsetzung der Mordaktion.
„Die Opfer der Euthanasie galten vielen als Last. Sie starben gewaltsam und von aller Welt verlassen.“
(Aly S.290)
Wie konnte es sein, dass Menschen als wertlos angesehen und ermordet wurden?
Sie waren anders und schwach, nicht so leistungsfähig wie es erwartet wurde.
Waren die Opfer eine Last für die Familie? Störten sie den Ablauf des Alltags? Fühlten sich die Angehörigen überfordert und vertrauten sie den Kreis- und Pflegeeinrichtungen ohne Misstrauen? Konnten sie dem auf sie ausgeübten Druck nicht standhalten?
Um die Bevölkerung nicht in Unruhe zu versetzen, erhielt die Mordaktion „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ den Tarnnamen „Aktion T4“, der für Tiergartenstraße 4 in Berlin steht, wo sich der Dienstsitz der zuständigen Behörde befand, deren Leiter der Mediziner Werner Heyde, Professor für Psychiatrie und Nervenheilkunde, war. (Aly S.46) Nach und nach wurden die Heil- und Pflegeanstalten in Nervenklinik oder Psychiatrisches Landeskrankenhaus umbenannt. (Aly S.195) Still und leise geschah dieses Verbrechen – doch halt! Dies stimmt nicht durchgängig, denn es gab Widerstand. Bekannt geworden ist die anprangernde Predigt des Bischofs Clemens August von Galen. Woraufhin die Nazis subtiler vorgingen und offiziell die T4 Aktion 1941 beendeten. Ärzte sprachen gegenüber den Familienangehörigen von einer medizinischen Behandlung, die dem Angehörigen helfen, aber auch zum Tod führen könnte. Proteste einzelner Familienangehöriger blieben in der Regel erfolglos. Nur wenigen gelang es, ihren Angehörigen wieder nach Hause zu holen. Weitergeführt wurde die „Euthanasie“ nach 1941 u.a. in den Vernichtungsanstalten in den besetzten polnischen Gebieten.
Diese Maßnahmen betrafen auch Schleswig-Holstein und somit das Kreispflegeheim Plön in Flintbek (heute Eiderheim in der Trägerschaft des Landesvereins Innere Mission). Namentlich bekannt sind außer Walter Bustorff aus Flintbek noch drei weitere Heimbewohner, die zunächst nach Schleswig verlegt wurden und von dort laut Angaben des Archivars des Landesvereins Innere Mission in die Vernichtungsanstalt Meseritz-Obrawalde (Provinz Posen, später Provinz Brandenburg) verlegt wurden. Wie konnte es sein, dass nach dem Ende des Nationalsozialismus im Mai 1945 Stillschweigen bewahrt wurde? Bis heute, also mehr als 80 Jahre nach den grausamen Geschehnissen, wurde die Geschichte der Opfer aus den damaligen Heil- und Pflegeanstalten nur rudimentär aufgearbeitet.
Unsere Kirchengemeinde stellt die Opfer jeglicher Gewalt in den Mittelpunkt des Gedenkens und Erinnerns, doch sollen in diesem Fall zwei Täter benannt werden, weil sie in enger Beziehung zu Kiel stehen. Werner Catel war einer der wichtigsten Gutachter im Rahmen der Kinder-Euthanasie und wurde 1954 Leiter der Kieler Universitätsklinik. Werner Heyde gehörte zum Leitungsgremium, das die T4 Aktion organisierte. Unter dem falschen Namen Fritz Sawade tauchte er nach 1945 in Schleswig-Holstein unter und verfasste psychiatrische Gutachten, obwohl es in Kiel einflussreiche Personen gab, die wussten, wer sich hinter diesem Namen versteckte. Viele Verfahren gegen beteiligte Mediziner*innen endeten nach 1945 zudem mit einem Freispruch oder einer geringen Strafe, während Überlebende lange um Wiedergutmachung kämpfen mussten.
Literatur:
Götz Aly, Die Belasteten, „Euthanasie“ 1939-1945 Eine Gesellschaftsgeschichte, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a.M. 2023, 3. Auflage Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat , Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, Fischer Taschenbuch Verlag, 2009,12. AuflageSilke von Bremen, Stumme Zeit, Roman, Dörlemann Verlag AG, Zürich 2024Schleswig-Holstein, Die Kulturzeitschrift für den Norden, Winter/Frühjahr 2024, Gespräch mit Marie Schwesinger „Das Unfassbare fassbar machen“, S. 6- 27Johannes Ehrmann „Warum starb Tante Ingrid?“ in DIE ZEIT, Nr. 23 vom 28. Mai 2025, S. 56/57